Das Unminimalistischste, das offensichtliche Gegenteil des Lebensstils, dem man abgeschworen hat bei der Selbsterklärung zum Minimalisten, das ist wohl das Aufheben. Je weniger, von allem, desto besser. Wenn man sich an diese Grundregel nicht mehr hält, wie kann man dann noch minimalistisch sein?
Wer so denkt, denkt vmtl. auf einer oberflächlichen Sichtweise von Minimalismus total folgerichtig. Na klar ist weniger = angenehmer, einfacher, besser. Kernpunkt eines Selbstverständnisses, bald Ideologie. Aber wir verlieren dabei den Generationenaspekt aus den Augen. Ist es minimalisitsch, ein altes Haus zu erhalten – und sich an diesen Besitz zu binden? Ist es minimalistisch, Kinderspielzeug aufzuheben, so dass die nächste Generation kein neues kaufen muss – und so eine Kiste mehr im Keller zu haben? (Oder überhaupt eine, falls ihr richtig gut seid…).
Sammeln und Abschied
Vor ein paar Jahren hätte ich noch „Eher nicht so…“ dazu gesagt. Heute habe ich ein Flauschi. Flauschi verpflichtet. Auch zu Besitz. Auch wenn es sich leicht sagt, dass man darüber stehen kann. Gibt sicher Leute, die es können. Aber ich zB. möchte ihr ein Tagebuch aus Papier in die Hand drücken, wenn sie auszieht. Keine mit Google synchronisierte Dateisammlung.
Es wird vielerorts, wenn es ums Sammeln geht, unter Minimalisten propagiert, dass man ja Fotos von Erinnerungsgegenständen machen kann. Ich finde aber, das widerspricht dem Loslassen als Prozess, bei dem sog. Trauerarbeit geleistet werden muss. Wie bei einem verlorenen Freund, dem Weggang aus der Heimat oder dem Verlust eines Jobs. Wenn etwas geht, muss es verabschiedet und verarbeitet werden. Und gerade bei Erinnerungsgegenständen ist das zuweilen erschreckend schmerzhaft.
Ich habe am Anfang auch immer viele Fotos gemacht, aber mittlerweile erlaube ich mir das Verarbeiten – und Vergessen. Deswegen, finde ich, ist das Aufheben von Fotos und Weggeben der realen Gegenstände nur eine Verlagerung, aber kein wirklicher Abschied. Man kann es ja immer noch mal angucken. Und es liegt auch irgendwo herum. Es bleibt im Hinterkopf, wo es nicht hingehört.
Verschieben ist kein Verabschieden. Die Verschiebung vom Materiellen ins Digitale macht vielleicht Platz im Schrank, aber nicht im Kopf.
Vielleicht ist dieses Verhalten aber bei manchen Sachen auch ein Indiz dafür, dass man sie womöglich doch behalten sollte. Weil es sinnvoll ist, nicht weil es einem schmeckt.
Der Impuls des Entsorgens
Ich hatte diese grauenhafte Regenjacke, die unglaublich praktisch war. Ich hab sie nicht mehr. Brauchte Platz. Jetzt nehme ich den Bus, wenn es regnet. Nicht nachgedacht, würde ich sagen. 3x im Jahr hässliche Regenjacke ist definitiv klüger als 365 Tage den Platz weniger, den eine läppische Jacke braucht. Aber so denkt man in dem Moment eben nicht. In dem Moment tut das Raushauen von hässlichem und bedrückendem Kram einfach zu gut. Ist vielleicht blöde, ist aber menschlich. Menschen verhalten sich bekanntlich öfter mal impulsiv.
Dieser Impuls des Entsorgens hat mir persönlich schon bei alljährlich dann doch nötig werdenden Aufräumrazzien sehr geholfen. Nur denke ich mittlerweile so: Man sollte den Mut des Weggebens und Wegschmeißens besser auch gezielt einsetzen, und nicht einfach auf alles anwenden, das einem in der Rage gerade unterkommt.
Tja ja… Nicht aus der Laune heraus einfach alles entsorgen. Sonst hat man später keine Regenjacke mehr.
Aber was behalten?
Bei den wirklich gebrauchten und geliebten Dingen ist es ja ganz einfach, zu sagen: Das bleibt! Aber bei Gegenständen, die man vielleicht nur langfristig nutzt, finde ich es sehr schwer. Die Überlegung, die mir aber jetzt, wo Flauschi da ist, oft in den Sinn kommt, ist dass man sich mit dieser Art von „Alles oder nichts“-Minimalismus ökologisch auch nicht gerade toll verhält. Es ist ja super toll, alles gebraucht zu kaufen, und hochlobenswert, Upcycling zu betreiben, wo man gerade über eine coole Hipsterzeitung mit neuen Ideen stolpert… aber wer das Zeug von der Oma aufhebt, wenn er’s grad nicht braucht, der ist ein Hoarder? Hä?
Wenn man das konsequent durchzieht, braucht man auch ständig Dinge neu und verwendet eine Menge Energie auf die zugehörige Logistik. Im Vergleich zum Übernehmen der Kellerklassiker und Oma-Dinge ist das manchmal etwas anstrengend. Auch Gebrauchtes muss erst mal gefunden werden, gefallen, einen guten Preis haben und dann irgendwie zu mir kommen. Vielleicht braucht es einen neuen Anstrich oder ist dann doch gar nicht so toll, kaputter oder maroder als man auf dem Foto sah, und stinkt ein bisschen. – Okay, manchmal habe ich wirklich tolle Flohmarktfunde gemacht, und das ist alles definitiv immer noch besser als dieses ganze Neukonsumieren. Trotzdem finde ich es ein bisschen komisch, wenn man altes Zeug ggf. mühsam sucht, kauft und aufmotzt, obwohl man es von Verwandten einfach so bekäme (vorausgesetzt, es ist nicht vollkommen grauenvoll und so…).
Es kommt mir bei manchen Minimalisten dann schon auch so vor, als ob sie, mich eingeschlossen, so sehr versuchen, im Hier und Jetzt zu leben, dass das Gestern und Morgen zu regelrechten Tabus werden. Wer zu weit in die Ferne schweift, verliert sich und häuft wieder Zeug an. Geht ja gar nicht!
Aber: Wer alles nur fürs Hier und Jetzt haben will, vergisst, dass Menschen altern und dass man von den Generationen vor sich profitieren und für die Generation nach sich sorgen kann, ganz direkt, ohne Zwischenhändler, mit Materiellem genauso wie mit Ideellem.
Aufheben kann doch auch gut sein
Beispiel. Meine Mutter hat vor ein paar Tagen mein Kinderstühlchen mitgebracht. Ein braunes Tavernenstühlchen aus DDR-Zeiten, an dem ich nicht besonders hing. Es stand im Keller rum. Es ist nicht mal unser Stil. Ich hätte, wenn es dieses Stühlchen nicht gegeben hätte, irgendein gebrauchtes Ding im Internet gekauft oder auf dem Flohmarkt. Etwas, das ein bisschen heller ist vielleicht. Aber jetzt ist es da. Fast schon ein Symbol für das Weiterleben von etwas über die Generationen.
Diese Idee finde ich eigentlich sehr schön. Und ich finde, man kann auch das Aufheben minimalistisch genug machen. Wenn man nur Schätze aufhebt. Oder Dinge, die es für Andere sein könnten. Das ist auch schon das Schwierigste. Das ist der Grund, warum ich das Babytagebuch auf Papier führe. Ich gebe es irgendwann ab und mein Kind darf selbst entscheiden, ob sie es behalten will.
Dafür habe ich keine Antiquitäten, keine Familienerbstücke, die auf gar keinen Fall veräußert werden dürfen. Denn so etwas finde ich wirklich belastend und daran denke ich einfach sehr oft, seit sie da ist. Ich persönlich finde es furchtbar, wenn man seinen Kindern „wertvolle“ Dinge vererbt. Ein Tagebuch, Briefe oder irgendetwas Kleines, das vielleicht viel mehr über den geliebten Menschen aussagt, finde ich viel schöner. Es hat nicht diese Schwere und Übergriffigkeit von einem Möbelstück, für das man plötzlich sorgen muss, ohne es aussuchen zu können.
Ich habe mich entschieden, mich nur mit wenigen Sachen zu umgeben, aber dafür nur mit solchen, die ich wirklich mag.
Das gleiche möchte ich meinem Kind auch ermöglichen, und das geht nicht, wenn ich ihr irgendwann mal mein ganzes altes Zeug auflade. Es soll diese Verpflichtungen nicht geben.
Gleichzeitig merke ich aber, auch im Umgang mit anderen Kindern und Familien, wie wichtig und sinngebend es für Kinder ist, Besitz zu haben, und etwas von den Eltern zu bekommen, etwas Greifbares. Denn Abgrenzung im Kopf lernt man auch über Abgrenzung im Räumlichen. – Dann muss ich mir selbst klar machen, immer wieder, dass ich manche Sachen gegen den eigenen Impuls des Entsorgens doch behalten sollte. Oder überhaupt erst mal machen muss. Tagebuch schreiben. Fußabdruck herstellen. Das Armband vom Krankenhaus gibt es auch noch. Schon…
Irgendwo hört es aber auch wieder auf. Die Grenze ist ziemlich fließend. Ich habe zB. keinen Bauchabdruck. Bäh, nein, das ging gar nicht! Vom Bauch gibt es nur ein paar wenige Fotos… Und beim Neu- oder Altkauf von Kindersachen habe ich soweit möglich auf Nachhaltigkeit oder Second-Hand-Kaufbarkeit geachtet. Aber nichts davon sind Dinge, die so unersetzlich und individuell sind, dass man ein schlechtes Gewissen haben müsste, wenn man sie nicht behält.
Vielleicht kommt irgendwann auch der Moment, wenn Flauschi und ich zusammen aussortieren. Wenn sie vielleicht sagt: Jaja. Meinen Baby-Becher kann jetzt ein anderes Kind haben. Das würde mich, glaube ich, sehr freuen…