Hauptseite Retrospektiven Vom Untergang der Allgemeinbildung, und der Intuition

Vom Untergang der Allgemeinbildung, und der Intuition

von Undine Almani

Nicht erst seit dem Auftreten des Voldermorts unter den Seuchen, der nicht beim Namen genannt werden darf, da sonst digitale Zensur erfolgt (oder auch die Aufoktroyierung eines breitflächigen Disclaimers für erwachsene Babys, die mindestens bis sie 90+ sind vor sich selbst geschützt werden müssen–und vor fake news)… nicht erst seit diesen düsteren Zeiten zu Beginn der bronzenen 20er, oder wie man das bezeichnen könnte, sind, wie ich es nenne, besinnungslose Studienschlachten en vogue. Eine neue Form der Diskussionskultur, die Einzug gehalten hat in alles, was in Medien macht, von Feuilleton bis Meinungsblog. Warum heißt der Mist eigentlich Blog? Das hier ist ein Blog. Ein Video ist kein verdammter Blog, ihr Banausen!

Ich glaube, es alles hat damit angefangen, dass das Internet auf die Telefone kam. Da war ich noch an der Uni. Wir saßen im Pub. Wir, das waren 5-6 Jungs und ich. Männerstudium. (Wenn ich erwähne, dass das angenehm ist, bin ich übrigens ein Pick me, und ich wollte nur erwähnen, dass mich alle am Arsch lecken können, die hier meine hoch validen Emotionen auf diese misogyne Art diskreditieren–ihr verdammten Ficker:innen, ihr seid die wahren Nestbeschmutzer.) Im Pub gab es Bier, Musik und Zigaretten, Herrenwitze, schamloses Body Shaming (damals gab es kein Wort dafür), und endlose aber sowas von nicht woke Diskussionsrunden bis weit nach Mitternacht. Und manchmal kamen dabei Fragen auf. Zum Beispiel wie der ein oder andere Schauspieler aus irgendeinem Film hieß.

Wenn einem solche Fakten nicht sofort einfielen, dann musste man grübeln. Das konnte manchmal ganze dreißig Sekunden dauern. Eine unerträglich zähe Vorstellung, wenn man an heute denkt. Aber auch damals schon hatten wir Klug-Handys. Mein einer Kumpel hatte ein Windows Phone. Das Ding war abartig. Mit solchen Kacheln und lauter Blähware. War der neuste Schrei. Ich hatte zum Glück bereits Linux, und Windows den endgültigen Arschtritt verpasst. Beim Telefon hätte ich da auch keine Ausnahme mehr gemacht auf die letzten Atemzüge meines Windows Vista, welches ich seit 2 Jahren nicht gebootet hatte… Ich besaß ein Nokia, mit Tasten, und wusste nicht mal, was WhatsApp ist. Als ich den Namen das erste Mal las, auf einem Handy eines Erasmusstudenten, das ich auf der Straße gefunden hatte, dachte ich nur: Was ist das bitte für eine dämliche Wortspielscheiße? Können die das nicht anders nennen? Und ich hasse Grün. (Wahre Geschichte.)

Tja, aber irgendwann hielt die Klugscheißertelefonplage dann auch Einzug. Perfekt rechtgeschriebene E-Mail, mal romantisch, mal ernst, wurde durch Kurznachricht und gelbe Grinseschnauze ersetzt. Ich weiß noch, wie unglaublich lächerlich ich die Verwendung dieser Smilies fand. ;^) und (._.) waren ja schon dämlich genug…. In meinem Bett- und Freundeskreis galt es schon eher als unkultiviert, seine Emotionen in Form von minderwertigen emotionsgeladenen Sonderzeichen auszuquetschen wie einen nassen Waschlappen. Man hatte seine Zuneigung oder Abendpläne gefälligst im Nur-Text-Format zu erklären.

All das ist nun ja Vergangenheit, niemand macht das mehr, außer vielleicht ein paar verkopfte Philosophiestudenten, bei deren Fach ich mich auch frage, wie lange es noch mit ph geschrieben werden darf. Denn ich bin ein Boomer – sagt man mir. Dabei gehöre ich offiziell zur Generation Y. Interessiert aber keinen. Alles, was über 30 ist: Boomer. – Kann kein iProdukt bedienen, und selbst wenn man es nicht bedienen können will, wird man belächelt, als ob die Fähigkeit, die primitivste Nutzerführung der Welt auswendig zu können dem Wissen sämtlicher Hochsprachen irgendwie überlegen sei oder so. Der Nonexistenz von Tablets, Smartphones und sonstigen leuchtenden Vierecken trauere ich in der Tat relativ wenig nach. Ich vermisse nicht den Diskomfort der Zeit ohne Mobiltelefon, ich vermisse ihre Ruhe und Unmittelbarkeit.

Sich an einem Freitagnachmittag 15:00 Uhr zu verabreden und gefälligst aufzutauchen, ohne vorher zu sprechen. Bestenfalls am Telefon, falls es sich ergibt, ansonsten träumt man vom Geliebten, bis man ihn sieht, und beschäftigt sich in Abwesenheit mit Büchern und sich selbst. Oder mit dem Fernsehen. Aber ich hatte nie einen Fernseher. Also nicht nie, aber als Erwachsener nicht. Hielt ich schon immer für Verblödung. Und Abzocke.

Aber zurück zur Freundesgruppe im Pub in der guten alten Zeit, als man schon noch E-Mails schrieb, also privat, und nicht nur am Lehrstuhl, als man so da saß und ohne dreimal nachzudenken, ob der nächste flapsige Spruch einen Fettsack, einen Ungebildeten oder irgendeine andere angeblich marginalisierte Gruppe beleidigt (obwohl fette Idioten ja langsam aber sicher die Mehrheit im Lande zu stellen scheinen, also warum verteidigt eigentlich niemand meine Ehre als marginalisierte dünne Physikerin? Noch dazu bin ich ja eine Frau, die machen auch nur die Hälfte der Menschheit aus, ja?!).

Als zu dieser Zeit langsam die allwissenden leuchtenden Hosenvierecke aufkamen, da wurde aus den 30 Sekunden Grübeln gefühlt über Nacht das in-2-Sekunden-sein-Handy-zücken. Das ausgelagerte Gehirn war uns schon damals ein Begriff. Und irgendwie ahnten alle, dass diese Art von nicht mal kurz Nachdenken die pure Verblödung sein würde, aber wir ließen es trotzdem geschehen, denn wir waren faul, und arrogant genug, irgendwas von Vorteilen und Freiheit zu schwafeln. Wir schrieben uns Kurznachrichten mit kaputter Grammatik. Wir sagten Leuten sogar, dass wir sie liebten. Mir wird ein bisschen schlecht, und ich gebe zu, dass ich Menschen, die das gemacht haben, verlassen habe, weil sie das gemacht haben. Ich war ein bisschen radikal.

Trotzdem (auch wenn ich ein kleines Arschloch war und ein großer Grammar-Nazi), so finde ich es doch trotzdem gerechtfertigt, dem Nachdenken nachzutrauern. Der Bereitschaft, gemeinsam zu grübeln und dieses soziale Grübeln in Höchstform hieß dabei, dem Anderen nicht einmal vorzusagen, sondern ihm auf die Gedankensprünge zu helfen, bis er von allein drauf kam. Das war großartig. Niemand kann mir anderes weismachen. Es war besser, es war überlegen, und heute ist es einfach nur scheiße.

Die Tatsache, dass Menschen das Handy zücken, sobald ihnen etwas nicht einfällt, ist ein Symptom der Verblödung. Das spart auch keine Zeit und das Hirn hat dadurch auch nicht Kapazität für Besseres. Im Gegenteil. Für das Gehirn sind wohl solche Aufgaben eine Art Sport, und was wir tun, wenn wir alle kleinen Denkereien auslagern, ist uns in die Midlife-Demenz zu klicken und zu wischen.

Ein Sprung zum Heute. Das Internet und der Zugang dazu wurden in meiner Lebenszeit nicht nur geboren, sondern auch groß gezogen und haben dann noch ungefähr 20 Metamorphosen durchgemacht. Als alles anfing, in den 2000er Jahren so richtig (davor war der Mist zum Erbrechen lahm, wenn man keinen Geldscheißer hatte), da dachte ich, dass das Internet irgendwann so eine Art riesiges Lexikon sein wird, voller Wissen, Forschung und gefühlt endloser kostenloser Weisheit. Irgendwie ist das ja auch passiert. Mit ein paar Paywalls, Werbung, falschen Behauptungen und „Kauf meinen Kurs“-Scheiße dazwischen. Und die paar Katzenbilder stören mich auch nicht. (Auf die von Kötern könnte ich verzichten.)

Aber im Großen und Ganzen haben wir jetzt einen Ort des Wissens. Und was mich verblüfft, ist die unglaublich degenerierte Art, wie das Gros der Leute damit umgeht. Die Frage, die ich mir stelle, ist ernsthaft, ob die Menschheit eigentlich schon immer so blöde war, oder ob das nur ein natürliches Phänomen des Alterns ist. Warum sind wir so?

Was ich meine? Ich meine, dass uns der Common Sense immer mehr abhanden kommt. Was angefangen hat mit dem unvermittelten und ungehemmten Nachschlagen von Trivia, das gipfelt im Urvertrauen in Online-Quellen und angebliche Experten. Jeder gottverdammte YouTuber mit 3 Abonnenten hält es heute für nötig, sich auf Studien zu berufen. Nicht aber, um tatsächlich ein Thema in der Tiefe zu verstehen, sondern als Backup für irgendein tolles Argument, mit dem man dem rhetorischen und ideologischen Gegner eine Watschen verpassen kann. Es geht nach meinem Eindruck eigentlich fast nie um die Erstellung von Video-Essays, umfangreichen Recherchen oder einer echten Diskussion, es geht ums Rechthaben.

Und damit spiegelt die sog. Meinungsbloggerszene eigentlich ganz gut ein gesamtgesellschaftliches Phänomen wider, scheint es mir. Es kommt mir immer öfter so vor, als ob Menschen gern Studien als Argumente benutzen, ob sie sie selbst gelesen haben oder nicht, und natürlich völlig gleich ob sie auch verstehen könnten oder verstanden haben, was im jeweiligen Papier denn drin stand. Statt dessen hat man in den Nachrichten, irgendeiner Zeitung oder im Internet gehört, gesehen, angeblich sogar gelesen, was Sache ist.

Man wird bombardiert von Halbwissen, getarnt als aufbereitete Fakten: Fett sein ist ja gar nicht ungesund, denn diese eine selbst übergewichtige amerikanische Medienstudiengangabbrecherin hat auf Basis dieser einen Studie, die eine andere naturwissenschaftlich völlig ungebildete Person ihr in einem Podcast vorgelesen hat, demonstriert, dass die wahre Gesundheit von innen kommt, und mit innen ist natürlich der Mageninhalt gemeint. Wer etwas anderes sagt, verbreitet Hassrede und ist ein anti-woker, frauenfeindlicher, rassistischer Menschenfeind. (Das ist kein Witz, es gibt ernsthaft Menschen, die meinen, gegen Übergewicht zu sein wäre rassistisch, weil schwarze Menschen ja dicker wären. Siehe auch »Fearing The Black Body« (Affiliate Link) – hat leider nix mit Planckschem Strahler zu tun, außer vielleicht, dass die Leute, die diesen Schwachsinn glauben, genauso viel Energie verbraten.)

Das ist nur ein Beispiel, es gibt endlos viele. Die mentale Napfsülze reicht von Esoterik, getarnt als achtsame und sinnvolle Spiritualität, bis hin zu Laien-Pädagogik, Psychologie für die Küche und Medizin für geistig Arme. Es ist sozusagen für jeden Geschmacklosen was dabei. Was die Verfechter dieser Thesen aber alle eint ist eine Immunität gegenüber tiefgreifender Diskussion, Videos die länger als 15 Sekunden dauern und offenbar eine tiefe Aversion gegenüber dem Lesen. Aber sicher bin ich hier nur ableistisch, immerhin haben ja mittlerweile laut TikTok 90% aller Jugendlichen Legasthenie, außerdem Autismus, 5 Persönlichkeiten, 20 Geschlechter, chronische Depressionen seit die Babys sind, und natürlich ADHS.

Und so verbreitet ein ungeduldiger Mob mehr Halbwahrheiten als Diskussionskultur, und verlangt zugleich mehr Oberflächlichkeit und einfache Antworten als differenzierte, langwierige, komplizierte Debatten. Muss ich das nun beweisen? Das Ding ist: Ich kann es nicht. Ich kann keine Studie machen, die zeigt, dass wir verblöden, immer oberflächlicher werden, jeden Mist glauben und immer kürzere Videos glotzen. Zu letzterem gibt es sicher einiges, und auch die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne bei Jugendlichen und sogar Erwachsenen wird auch untersucht, soweit ich weiß. Allerdings möchte ich an dieser Stelle einen ganz anderen Gedanken in diese etwas wüste Hirnentladung geben: Was, wenn wir unsere Intuition und unseren sog. gesunden Menschenverstand wieder entdecken? Ja, letzteres ist die Übersetzung von common sense.

Es ist mehr als Bildung nämlich. Es ist ein Gefühl für das, was wahrscheinlich ist. (Manche mögen wahr dazu sagen.) Ist es wahrscheinlich, dass es gesund ist, eine dicke Speckschicht zu haben, um bei diesem mir wegen seines inflationären Gebrauchs schon fast unangenehmem Beispiel aus der Body Positivity Bubble zu bleiben (aber nur fast, haha)…? Oder klingt das ganz schön dämlich? Es ist die Idee von: Der Psychiater muss selbst nicht vom Hochhaus springen, um zu wissen, dass Selbstmord kacke ist. Die Idee, dass man sich etwas vorstellen kann, bevor man es macht, sagt oder bewertet. Und auch gesunder Menschenverstand ist oberflächlich, in seiner Funktion als Vorurteil, als Schutz vor Fehltritten und Fettnäpfchen zum Beispiel. Aber er wächst aus einem tieferen Verständnis, aus Erfahrung, Empathie und Miteinander. Ich finde das ungemein cool. Und auch wenn ich selbst übrigens ein großer Anhänger vom Studienlesen bin, auch für Laien, ja ja, so bin ich trotzdem auch ein Freund des Menschenverstandes. Ich wünsche mir, dass wir, bevor wir erlauben, dass eine friedliche Diskussion in eine Studienschlacht mit Rechthabereigegeier auswartet, zuhören und verstehen und vor allem anderen selber denken.

Auch das Wort Intuition ist eine gute Erinnerung an das, was vielen heute fehlt. Ich selbst habe auch eine leichte Aversion dagegen. Es klingt so sehr nach Hebamme mit Kräuterbalsam. (Nichts gegen Hebammen, ein Hoch auf diese, und ihre Intuition übrigens!) Ich verbinde mit Intuition einen Hauch von Esoterik, leider. Dabei ist es aber eigentlich genau das, was wir brauchen. Ein Gefühl dafür, nicht reines Faktenwissen, was richtig und was falsch ist. Denn Intuition schützt Menschen davor, auf Schwachsinn herein zu fallen und Blendern zu glauben. Intuition ist das, was dich schlagfertig aber auch verständnisvoll macht.

Alle Professoren und Experten dieser Welt können den ganzen Stuss widerlegen, den Leute tagtäglich im Internet einfach so behaupten. Jeder kann meinen, dass er eine Erkrankung hat oder nicht, jeder kann von Erfahrungen sprechen, und keiner kann prüfen, ob das wirklich so passiert ist. Speicherplatz ist geduldig, viel geduldiger als Papier. Aber wir können unser Hirn trainieren, mit Büchern, mit Kompliziertem, und mit Hilfe von Menschen, die Dinge auf tieferer Ebene verstanden haben. Letzteres, denke ich, ist auch die beste und schönste Form des Verstehens – das soziale Lernen.

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